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Wortgeschichte

Schreibvarianten

Das althochdeutsche io hwergin hat bis heute viele Varianten hervorgebracht und sich in der Bedeutung weiter entwickelt.
Aus mittelhochdeutscher (1050 und 1350) und frühneuhochdeutscher (1350 bis 1650) Zeit sind viele Schreibvarianten für das althochdeutsche io hwergin belegt. In meinen Büchern habe ich über fünfzig verschiedene Varianten gefunden:
Hier die Sammlung der verschiedenen Wortformen von Herrn Alt in alphabetischer Reihenfolge:
ergent, erghent, iena, ienant, iendert, iene, ienen, ienert, ier, iere, iergen, iergent, iergin, ina, inder, inderley, indert, indertt, inndert, irend, irgant, irgen, irgends, irgens, irgent, irgents, irgin, jendert, jenert, jergend, jergendt, jergene, jndert, jnndert, jren, jrgend, jrgends, jrgendt, jrgens, jrgent, jrrgendt, yendert, yenen, yergen, yergent, yerngend, yndert, yrgen, yrgend, yrgens, yrgent, yrne
Hinzu kommen noch unzählige Varianten aus Regionalsprachen und Dialekten. Nur ein paar Beispiele aus dem Rheinland:
ērənt, ərənts, ērəs, ergends, erjends, erjənts, ī:rən(ts), īərjəndwō, iərn, iren(s), örges, örres
Noch heute ist im Oberbergischen (NRW) und im Rheinland die Aussprache mit irj gebräuchlich, z. B. irjend, irjendseiner, nirjends, irjendswatt, nirjendswo ...
Es gibt nur sehr wenige Wörter, die in ihrer Entwicklung so viele verschiedene Schreibvarianten hervorgebracht haben.

Vom io hwergin zum irgend

Bis ins 15. Jahrhundert wurden die meisten Texte in lateinischer Sprache verfasst. Es sind nur wenige Quellen in deutscher Sprache erhalten geblieben. Bis zur Erfindung des modernen  Buchdrucks (Mitte des 15. Jahrhunderts) wurde in den Schreibstuben so geschrieben, wie ein Wort gesprochen wurde. Und das war regional ganz verschieden. So kommt es, dass einige Wörter sehr verschieden geschrieben wurden, das Wort irgend auf über fünfzig verschiedene Art und Weise. Ich kenne nur das Wort  jemand, das noch mehr Schreibvarianten hervorgebracht hat.
Das Wort irgend ist ein sehr schön Beispiel dafür, wie sich viele Wörter im Laufe der Zeit verändert haben. Zunächst gab es von der regional sehr unterschiedlichen Aussprache abgeleitet verschiedene Schreibvarianten. Mit der Einführung des Buchdrucks reduzierten sich diese Varianten auf einige wenige, da nun nicht mehr die vielen Mönche in den Schreibstuben, sondern die wenigen Drucker die Schreibung von Wörtern bestimmten. Bücher, die sich im deutschen Sprachraum weit verbreiteten, bestimmten zunehmend die Schreibung der Wörter. Das wichtigste Buch für die Entwicklung einer einheitlichen Rechtschreibung war die Luther-Bibel.
Diese Entwicklung der Vereinheitlichung der Schreibung kann beim Wort irgend sehr schön anhand der unterschiedlichen Schreibungen am Wortanfang und Wortende gezeigt werden.

j oder i am Wortanfang

Das althochdeutsche Adverb io (wergin) wurde in mittelhochdeutscher Zeit zu ie und später zu je.
Die Römer unterschieden noch nicht zwischen den Buchstabenzeichen J und I. Beide Zeichen wurden für die Laute [i] (Insel, Lippe), [i:] (Igel, Biene) und [j] (Jäger, Soja) verwendet. Bei der Übernahme des lateinischen Alphabets im deutschen Sprachraum wurde diese doppelte Verwendung übernommen. Man schrieb bis ins 19. Jahrhundert J und I für die Laute [i] und [i:]. Vor allem am Satzanfang und bei Nomen bevorzugten viele Drucker J an Stelle von I.
Es ist also nicht ungewöhnlich, dass wir in alten Schriften des 14. Jahrhunderts einerseits jendert, jrgent und andererseits iendert, iergent finden. Ganz unabhängig von der Schreibung (j oder i) wurde am Wortanfang meist [i] oder [i:] gesprochen. Diese Parallelität ist bis ins 19. Jahrhundert erhalten geblieben.
Nach Veröffentlichung der Luther-Bibel (1522) dominierte eine Zeitlang die von Martin Luther bevorzugte Schreibung jrgend und jrgent. Ab Ende des 17. Jahrhunderts setzte sich dann zunehmend die heute gebräuchliche Schreibung irgend oder irgends durch.
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Hier ein Beispiel von Martin Luther aus dem Jahr 1522. Sowohl das Wort irgend als auch jemand werden mit dem gleichen Anfangsbuchstaben j geschrieben.
Bi-W-I Scherer 1888.jpg
Das nächste Beispiel ist aus einem Text von Wilhelm Scherer aus dem Jahr 1888. Die Wörter Individuum und Irgend werden beide mit J (Großbuchstaben) geschrieben.
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Wie groß der Einfluss von Martin Luther (vor allem durch die Bibelübersetzung) war, kannst du an dem nebenstehenden Diagramm sehen. Bis zum 15. Jahrhundert dominierten am Wortanfang von irgend der Buchstabe i, vereinzelt auch j und y. Martin Luther bevorzugte die Schreibung mit j am Wortanfang. Diese Schreibung setzte sich im 16. und 17. Jahrhundert durch (rote Balken im nebenstehenden Diagramm). Die meisten Drucker bevorzugten ab der Mitte des 17. Jahrhunderts i am Wortanfang (grüne Balken). Dies entsprach ihrem Empfinden nach eher der Aussprache des Wortes irgend, das mit [i] am Wortanfang gesprochen wurde.

t oder d am Wortende

So wie der Wortanfang verschieden geschrieben wurde, so ist es beim Adverb irgend auch am Wortende.
Bi-W-I D t-d-dt.jpg
Bis ins 15. Jh. dominierte am Wortende entweder ein Vokal (im nebenstehenden Diagramm grau) oder ein t. Martin Luther verwendete in seiner Bibelübersetzung sowohl ein d als auch ein t am Wortende. Die Schreibung mit d setzte sich dann ab dem 17. Jh. immer mehr durch, bis sie schließlich Ende des 18. Jh. alle anderen Schreibungen verdrängte.


Es kann an historischen Texten zwar nachverfolgt werden, ab wann am Wortende der Buchstabe t beim Wort irgend auftritt und ab wann sich das d durchsetzt. Die Antwort auf die Frage, warum wird im Wort irgend zunehmend am Ende t durch d ersetzt, bleibt aber weitgehend unklar. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich hier um eine Analogiebildung zu jemand bzw. niemand handelt.

Das Wort irgend in Luthers Bibelübersetzung

In der Zeit, in der Martin Luther die Bibel übersetzte, gab es noch eine Vielzahl regional unterschiedlicher Schreibvarianten für das Wort irgend. Nachgewiesen werden kann, dass Martin Luther das [i] am Wortanfang in dem Wort irgend mit dem Buchstaben j verschriftete.
Am Wortende finden wir in den ersten Drucken der Lutherbibel unterschiedliche Schreibungen. In der Übersetzung des neuen Testaments, die Martin Luther in nur knapp drei Monaten schaffte, ist fünfmal jrgent und dreimal jrgend verzeichnet. Im der Übersetzung des alten Testaments finden wir 21 mal jrgent und 36 mal jrgend. Interessant ist, dass die unterschiedliche Schreibung von Kapitel zu Kapitel anders ausfällt. Als Beispiel die Bücher Mose: Buch 1 und Buch 2 = jrgend, Buch 3 = jrgent, Buch 4 und Buch 5 = jrgend. Diese Unterschiede deuten darauf hin, dass die konkrete Schreibung vermutlich von den einzelnen Schriftsetzern bestimmt wurde.

Wortschatz und Rechtschreibung

Wortbildungen

Das althochdeutsche io hwergin wurde schon sehr früh im Sinne von irgendwo gebraucht. Diese Bedeutung dominierte noch bis ins 16. Jahrhundert.
Hier einige Beispiele aus der frühneuhochdeutschen Zeit: jrgend auff Erden, jergend in andern Statt, jrgendt in den Reichs.
Mit der Zeit wurden ienen / ienert / jrgend usw. mit anderen Wörtern ergänzt und erlangte weitere Bedeutungen, z. B. yrgend eyner, an jrgend eim ort, jrgend etwas, jrgends jemand, jrgend newe, jrgend außgangen, jrgend zuvor.
Mit diesen Ergänzungen bekam das Adverb zunehmend die Bedeutung einer Unbestimmtheit, z.B. irgend ein(er), irgend wer, irgend was und dann auch irgend wo.
Heute sind folgende Wortbildungen gebräuchlich:
irgend irgendein(e,er), irgendeinmal, irgendetwas, irgendjemand, irgendwann, irgendwas, irgendwelch(e,er,es), irgendwer, irgendwie, irgendwo, irgendwoher, irgendwohin
nirgend nirgendher, nirgendhin, nirgendwo, nirgendwoher, nirgendwohin
nirgends Anmerkung: Die Wortbildungen mit s sind eher selten und nur regional gebräuchlich. nirgendsher, nirgendshin, nirgendswo, nirgendswoher, nirgendswohin

Zusammen oder getrennt

Das althochdeutsche Wort io hwergin hatte die Bedeutung irgendwo. Später (ab etwa dem 14. Jh.) wurde die Bedeutung verallgemeinert auf irgend. Und noch später (ab ca. 15. Jh.) kamen Ergänzungen hinzu, z. B. irgend ein, irgend wann, irgend was, irgend wer. Diese Ergänzungen wurden zunächst getrennt geschrieben. Nur die Wörter irgendwo und irgendwohin wurden schon früh als ein Wort zusammengeschrieben, z. B. in den frühen Wörterbüchern von Adelung, Goethe, den Brüdern Grimm und Konrad Duden.
Bi-W-I Tabelle WB.jpg
Auf der zweiten Orthografischen Konferenz (1901) wurde die Zusammenschreibung für solche Wörter festgelegt, die bis dahin uneinheitlich, also von einigen Druckereien getrennt und von anderen zusammen geschrieben wurden (irgendwas, irgendwelche, irgendwer). Der Rat der deutschen Rechtschreibung legte dann 2006 fest, dass Wortbildungen mit dem Bestimmungswort irgend zusammengeschrieben werden sollen. Bei Erweiterungen des Grundwortes wird weiter getrennt geschrieben, z. B. irgend so einer, irgend so etwas.

Amtliches Regelwerk der deutschen Rechtschreibung

TEIL I: REGELN
B Getrennt- und Zusammenschreibung
4 Andere Wortarten
§39 Mehrteilige Adverbien ... werden zusammengeschrieben, wenn die Wortart, die Wortform oder die Bedeutung der einzelnen Bestandteile nicht mehr deutlich erkennbar ist.
Dies betrifft
(1) Adverbien: ...
irgend- irgendeinmal, irgendwann, irgendwie, irgendwo, irgendwohin
(4) Pronomen: ...
irgend-: irgendein, irgendetwas, irgendjemand, irgendwas, irgendwelcher, irgendwer
E2: In anderen Fällen wird getrennt geschrieben → § 39 E3(1).
(1) Fälle, bei denen ein Bestandteil erweitert ist: ...
irgend so ein/eine/einer (aber irgendein), irgend so etwas
TEIL II: WÖRTERVERZEICHNIS
irgendᴗ: irgendeinmal, irgendwann, irgendwie, irgendwo, irgendwohin § 39(1); irgendein, irgendetwas, irgendjemand, irgendwas, irgendwelcher, irgendwer § 39(4), aber irgend so ein, irgend so etwas § 39 E2(1)

Belege/Quellen

Diskussion: Johann Christoph Adelung, Deutsches Wörterbuch (DWb),, Goethe-Wörterbuch (GWb), Pfälzisches Wörterbuch (PfWb), Rheinisches Wörterbuch (RhWB), Lexikalisches Informationssystem Österreich (LIÖ)

Schreibvarianten: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (Fnhd-WB), Mittelhochdeutsches Wörterbuch (Mhd-WB), Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), Deutsches Textarchiv (DTA), Rheinisches Wörterbuch (RhWB)

j oder i am Wortanfang: Martin Luther 95 Thesen (23), Wilhelm Scherer: Poetik. Berlin, 1888,

Diagramme: Analyse der Historischen Korpora im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) und dem Deutsches Textarchiv (DTA)

Bibelübersetzung, Martin Luther; Münchener Digitalisierungs-Zentrum: Neues Testament, Altes Testament, Zeno.org: Neues Testament, Altes Testament,

Zusammen oder getrennt, d oder t am Wortende: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer, Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Goethe-Wörterbuch (GWb), Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (DWb), Konrad Duden: Orthografisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1880 Erstausgabe), (1902 Buchdruckerduden), (1905, 1926, 1941, 2006, 2020), Amtliches Regelbuch für Deutschland, Österreich und der Schweiz (1903, 2006); Rechtschreibrat: Amtliches Regelwerk der deutschen Rechtschreibung (2024)

Amtliches Regelwerk: Regelwerk und Wörterverzeichnis 2024

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