Warum heißt es zum Wort geschehen „es geschieht“ (mit ie) und nicht „es gescheht“? Warum heißt es in der Vergangenheit „es geschah“ (mit a) und nicht „es geschehte“?
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Melek, Klasse 6, Gelsenkirchen
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Diskussion
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Die Einzahl (Singular) in der 3. Person Gegenwart (Präsens) heißt er/sie/es geschieht. In der Vergangenheit (Präteritum) finden wir ein a: es geschah.
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Es gibt noch mehr Merkwürdigkeiten bei diesem Verb. So gibt es keine Form für die 1. und 2. Person. Wir können also nicht sagen: ich geschehe oder du geschiehst. Und auch die Befehlsform (Imperativ) gibt es nicht. In allen Zeiten gibt es nur eine Variante in der 3. Person Einzahl und Mehrzahl.
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Der Vokalwechsel war in althochdeutscher Zeit bei Wörtern mit einem germanischen Ursprung nicht ungewöhnlich. Die meisten Wörter passten sich im Laufe der Zeit an die regelhafte Bildung der verschiedenen Formen in der Gegenwart und Vergangenheit an.
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In althochdeutscher Zeit (zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert) hieß das Verb noch giskehan. In der 3. Person Einzahl hieß es giskihit oder auch geskihet. Später wurde hieraus geschiehet und geschieht.
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Die Vergangenheitsform war in dieser Zeit giscah oder gescah und später geschahe.
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Das zugrunde liegende Verb schehen gibt es heute nicht mehr. In althochdeutscher Zeit gab es noch das Verb skehan (= eilen, rennen), das nach dem 16. Jahrhundert nur noch vereinzelt verwendet wurde.
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Lieber Herr Alt. Ich glaube es reicht. Melek wird jetzt verstanden haben, dass das Verb geschehen eine lange Geschichte hat.
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Ja, ja! Aber haben Sie noch einen kleinen Moment Geduld. Ich hab da noch was ganz spannendes:
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Gerade eben habe ich erzählt, dass man früher geschiehet oder geschieht sagte. Nun muss man wissen, dass das h im Wort wie ein <ch> gesprochen wurde. Also so wie im Wort Teich. Man sprach also: geschiecht.
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Und? Fällt euch was auf?
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Moment mal, das klingt ja wie unser Wort Geschichte!
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Ganz genau! Das Verb geschehen bedeutet: sich ereignen, zutragen, erfolgen. Heute wird das Wort häufig durch das Verb passieren ersetzt.
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In der Vergangenheitsform heißt es dann: es hat sich ereignet, zugetragen, es ist passiert usw.
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Und beides steckt auch in der Bedeutung des Nomens Geschichte: In einer Geschichte kann erzählt werden, was sich ereignet oder was gerade passiert. Man kann auch die Vergangenheit erforschen und an der Universität das Fach Geschichte studieren. Und natürlich kann man auch Geschichten erfinden.
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In den nordischen Sprachen findest du noch das alte untergegangene Verb schehen. Dort hat es die gleiche Bedeutung wie unser Verb geschehen.
- Dänisch = ske
- Norwegisch = skje
- Schwedisch = ske
In einigen westgermanischen Sprachen hat sich hingegen geschehen durchgesetzt, z. B. auch
- Luxemburgisch = geschitt
- Afrikaans = geskie
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Liebe Melek, ganz lieben Dank für deine Frage. Mein Rechtschreibteam hat noch lange diskutiert. Herr Wort hat viele Wörter gesammelt, Frau Unterschied fand noch interessante Sprüche und Redensarten. Und ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass die Geschichte vom Verb geschehen abgeleitet ist. Einfach toll! Bleib weiter neugierig!
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Hinweise zum Wort geschehen
Bedeutung:
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ereignen, vorfallen, passieren
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Beispielsatz:
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Es ist etwas Schreckliches geschehen.
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Wortinfo:
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Zum Verb geschehen gibt es nur die dritte Person Singular = er/sie/es geschieht und Plural = sie geschehen. Die Vergangenheitsform (Präteritum) ist es geschah.
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Worttrennung: ge-sche-hen; Aussprache: [ɡəˈʃeːən]
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Wortbildung: das Geschehen, das Geschehnis
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Herkunft:
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Die heutige Bedeutung des Wortes hat sich aus dem althochdeutschen Verb giskehan = sich ereignen, schnell vor sich gehen entwickelt. Das zugrunde liegende Verb schehen ist vor rund tausend Jahren ausgestorben und wird seit dieser Zeit nicht mehr verwendet.
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Sich ereignen hat sich aus schnell vor sich gehen, plötzlich vorkommen entwickelt. Das Wort wird auf das altdeutsche shehan = eilen, rennen zurückgeführt.
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Weiterführende Informationen
Info zum Wort
Entstehung:
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ie. *s-kek- = springen
9. Jh. ahd. skehan = umherstreifen, eilen, mhd. schehen = jagen, rennen, eilen
10. Jh. ahd. giskehan, mhd. geschehen
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Ableitungen:
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das Geschehen
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Verwendung:
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Das Wort geschehen hat in den letzten fünfzig Jahren immer mehr an Bedeutung verloren. Es wurde in den Zeitungskorpora immer seltener verwendet. In der gleichen Zeit stieg die Verwendung des alternativen Fremdwortes passieren stetig an.
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geschehen (Quelle: DWDS)
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passieren (Quelle: DWDS)
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Redensarten, Sprichwörter, Zitate
Im Internet kannst du viele interessante Redensarten, Sprichwörter, Bauernregeln, Zitate usw. finden. Hier ein paar Beispiele. Die Texte sind mit der Quelle verlinkt. Auf diesen Seiten findest du auch weitere Texte und Sprüche mit den Wörtern geschehen, geschieht und geschah.
Sprichwörter
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Wenn dich weitere Redensarten und Sprichwörter interessieren, so findest du sehr viele im Internet: (nicht alle Seiten sind werbefrei):
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Zitate
- Alle Dinge, die passieren, können jedem von uns geschehen. (Katharina Eisenlöffel)
- Manchmal muss etwas geschehen, was eigentlich nicht geschehen sollte, damit es nie wieder geschehen kann. (Eda Kocapinar)
- Meistens muss etwas geschehen bevor etwas passiert. (Kurt Haberstich)
- Sage nie: „Dann soll's geschehen!“ Öffne dir ein Hinterpförtchen durch „Vielleicht“, das nette Wörtchen, oder sag: „Ich will mal sehen!“ (Wilhelm Busch)
- Und ins Geschehen fügt sich jedermann. (Johann Wolfgang von Goethe)
- Vieles, das früher aus Überzeugung geschah, geschieht heute aus Langeweile. (Kurt Haberstich)
- Viele handeln, weil etwas geschehen ist. Wenige handeln, weil etwas geschehen soll. (Peter Hohl)
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Wenn dich solche Zitate interessieren, dann findest du viele weitere auf den (nicht werbefreien) Internetseiten:
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Wortbildungen
geschehen
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Alltagsgeschehen, Ballgeschehen, Baugeschehen, Betriebsgeschehen, Bildgeschehen, Börsengeschehen, Bühnengeschehen, Demonstrationsgeschehen, Dorfgeschehen, Einsatzgeschehen, Festgeschehen, Filmgeschehen, Fußballgeschehen, Gegenwartsgeschehen, Gemeindegeschehen, Gesamtgeschehen, Grundgeschehen, Gründungsgeschehen, Handelsgeschehen, Heilsgeschehen, Kampfgeschehen, Kerwegeschehen, Klanggeschehen, Klimageschehen, Konzertgeschehen, Krankheitsgeschehen, Krebsgeschehen, Kriegsgeschehen, Kulturgeschehen, Kunstgeschehen, Leinwandgeschehen, Lokalgeschehen, Marktgeschehen, Mediengeschehen, Messegeschehen, Mordgeschehen, Musikgeschehen, Naturgeschehen, Ortsgeschehen, Passionsgeschehen, Pokalgeschehen, Popgeschehen, Prozessgeschehen, Renngeschehen, Revolutionsgeschehen, Schulgeschehen, Spielgeschehen, Sportgeschehen, Stadtgeschehen, Tagesgeschehen, Tanzgeschehen, Tatgeschehen, Tennisgeschehen, Theatergeschehen, Traumgeschehen, Turniergeschehen, Unfallgeschehen, ungeschehen, Unterrichtsgeschehen, Vereinsgeschehen, Verkehrsgeschehen, Wahlgeschehen, Weihnachtsgeschehen, Weltgeschehen, Wettergeschehen, Wettkampfgeschehen, Wirtschaftsgeschehen, Zeitgeschehen
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Unikales Morphem ?
Das Morphem scheh kommt im heutigen Sprachgebrauch nicht insoliert und nur in der Verbindung mit dem Präfix ge- vor.
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Das Morphem scheh ist daher ein unikales Morphem.
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Vokalwechsel
Der Vokalwechsel vom e (Infinitiv) zum i (2./3. Pers. Sing.) und a (Präteritum) und zurück zum e (Partizip II) kommt nicht nur im Verb geschehen sondern darüber hinaus in einigen weiteren Verben vor:
Präsens
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Präteritum
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Partizip II
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Infinitiv
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1. Pers.
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2. Pers.
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3. Pers.
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1. Pers.
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2. Pers.
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3. Pers.
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essen
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esse
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isst
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isst
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aß
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aßest/aßt
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aß
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gegessen
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fressen
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fresse
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frisst
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frisst
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fraß
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fraßest/fraßt
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fraß
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gefressen
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geben
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gebe
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gibst
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gibt
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gab
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gabst
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gab
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gegeben
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geschehen
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-
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-
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geschieht
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-
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-
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geschah
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geschehen
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lesen
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lese
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liest
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liest
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las
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lasest/last
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las
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gelesen
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messen
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messe
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misst
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misst
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maß
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maßest/maßt
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maß
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gemessen
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sehen
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sehe
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siehst
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sieht
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sah
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sahst
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sah
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gesehen
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treten
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trete
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trittst
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tritt
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trat
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tratest/tratst
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trat
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getreten
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vergessen
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vergesse
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vergisst
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vergisst
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vergaß
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vergaßest/vergaßt
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vergaß
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vergessen
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Seitenanfang
Belege/Quellen
Herkunft der Wörter: geschehen, geschieht, geschah, schehen: Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm; DWDS, Wiktionary, Duden, Duden Herkunftswörterbuch, 6. Aufl. 2020
Übersetzungen: glosbe
Wörterliste: DWDS, Wiktionary, Wörterbuchnetz (versch. Wörterbücher, vor allem Adelung, Goethe, Grimm), ZDL sowie verschiedene nicht werbefreie Quellen: Educalingo, Duden Online-Wörterbuch, wissen.de
Weiterführende Informationen zu den Scheinwörtern/unikalen Morphemen